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Wachsamkeit ist der Schlüssel zum Erfolg

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Damit die Polioeradikation weiter Fortschritte macht, bedarf es der beharrlichen Überwachung

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In mehreren afrikanischen Ländern ist das Risiko eines Polio-Ausbruchs sehr hoch. Malawi zählte viele Jahre hinweg nicht zu ihnen.  

Das Land verfügt über eine solide Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens und hat eine hohe Impfquote. Zum letzten Mal erkrankte dort ein Kind 1992 an der Kinderlähmung – Jahrzehnte vor der Erklärung des gesamten Kontinents als poliofrei. „Stellen Sie sich vor, wie viele Kinder geboren wurden und aufgewachsen sind, ohne zu wissen, was Polio ist“, sagt Jamal Ahmed, Koordinator des Polio-Eradikationsprogramms in der Region Afrika der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO). Als im Februar 2022 ein Kind in Malawi positiv auf das Polio-Wildvirus getestet wurde, „kam das überraschend“, so Ahmed weiter.

Eine ähnlich unangenehme Überraschung erlebte Janell Routh einige Monate später in einer E-Mail von Kirsten St. George vom Wadsworth Center. Das Referenzlabor für Poliomyelitis im US-Bundesstaat New York hatte bei einem ungeimpften Mann im Kreis Rockland County, etwa 50 km nördlich von Manhattan entfernt, eine Polio-Infektion nachgewiesen. „Das war ein ziemlicher Schock“, sagt die Amtsärztin Routh, die in der Abteilung für Viruskrankheiten an der amerikanischen Seuchenbehörde U.S. Centers for Disease Control and Prevention arbeitet. „Wir hätten nie gedacht, dass wir in den Vereinigten Staaten jemals wieder einen Fall von paralytischer Poliomyelitis erleben würden.“ 

Wie war es dann möglich, dass Mediziner in zwei Ländern, die lange Zeit als poliofrei galten, Polio feststellten? Und wie lässt sich sicherstellen, dass die Krankheit wirklich verschwunden ist? Die Suche nach einer Krankheit wird als Überwachung oder Surveillance bezeichnet. Rotary hat diesen Prozess in den letzten fünf Jahren mit 73,6 Millionen Dollar unterstützt. Jetzt, wo die weltweite Ausrottung der Kinderlähmung immer näher rückt, kommt der Überwachung eine entscheidende Rolle zu, um sicherzustellen, dass die Welt wirklich poliofrei ist.

Labortechniker nehmen Wasserproben aus dem Bhalswa-See in Delhi (Indien), um sie auf Polioviren zu untersuchen. Dieser Prozess der Umweltüberwachung hilft den Behörden bei der Suche nach asymptomatischen Fällen, die auf einen Ausbruch hindeuten könnten.

Alyce Henson

Wenn sie richtig durchgeführt werden, sind die Grundlagen der Überwachung relativ einfach. "Im Bereich der öffentlichen Gesundheit sieht man nur das, wonach man sucht", erklärt Stella Anyangwe, eine End Polio Now-Koordinatorin aus Südafrika, die zuvor 17 Jahre lang bei der WHO tätig war. "Wenn man nicht nach etwas sucht, sieht man es nicht - obwohl die Tatsache, dass man es nicht sieht, nicht bedeutet, dass es nicht existiert. Genau das ist die Aufgabe der Überwachung: Man sammelt und analysiert Informationen und interpretiert sie dann."

Ein weiteres, etwas unappetitliches und ungalmouröses Detail liegt in der Art und Weise, wie Seuchendetektive nach Polio suchen: Ein Schlüssel zu einer poliofreien Welt liegt - im Kot.


Als ein dreijähriges Mädchen aus einem Armenviertel in Malawis Hauptstadt Lilongwe mit einer Lähmung der rechten Seite im November 2021 in ein Krankenhaus gebracht wurde, diagnostizierten die Ärzte schnell eine akute schlaffe Lähmung (Acute Flaccid Paralysis, AFP). Dabei handelt es sich um eine plötzlich auftretende Muskelschwäche, die üblicherweise die Gliedmaßen betrifft. Die AFP hat viele Ursachen – die Poliomyelitis ist nur eine davon – und tritt nur selten auf. Schon allein aus diesem Grund sind Nachuntersuchungen enorm wichtig.

In Zahlen

  1. 145

    aktive Labore im Polio-Netzwerk

  2. 75

    Labore mit der Kapazität zur Umweltüberwachung

  3. 800

    Standorte weltweit zur Umweltüberwachung

  4. 73,6 Mio. USD

    Ausgaben von Rotary für Überwachungsmaßnahmen 2018-22

  5. 85%

    Länder in der afrikanischen WHO-Region mit einem Umweltüberwachungssystem

Polio wird über menschliche Ausscheidungen übertragen (in seltenen Fällen auch durch Niesen und Husten). Das Virus dringt durch den Mund in den Körper ein, zum Beispiel durch verseuchte Lebensmittel oder unreines Wasser. Es vermehrt sich im Magen-Darm-Trakt und wird mit dem Kot ausgeschieden. Wenn Ärzte bei einem Patienten eine AFP diagnostizieren, schicken sie eine Stuhlprobe an ein Polio-Referenzlabor, wo die Probe auf das Virus untersucht wird. Dies wird als AFP-Überwachung bezeichnet: zunächst wird nach Fällen einer akuten schlaffen Lähmung, dem Hauptsymptom von Polio, gesucht, und anschließend anhand der Probe abgeklärt, ob diese Fälle wirklich durch Polioviren verursacht wurden. 

Farrell Tobolowsky ist medizinische Epidemiologin in der CDC-Abteilung für globale Immunisierung. Sie erklärt die AFP-Überwachung mit einer Angel-Metapher: „Vergiss nie das Netz, das du beim Angeln auswirfst", sagt sie. „Polio ist der Fisch, den du mit diesem Netz fängst.“ 

In Malawi nahmen die Ärzte eine Stuhlprobe des Mädchens, so wie es das Protokoll vorsieht. Da jedoch der letzte Fall einer Polio-Infektion in diesem Land 30 Jahre zurücklag, dachte keiner zunächst an ein Poliovirus. Im Januar wurde die Probe dann an das nächstgelegene Polio-Referenzlabor in Südafrika geschickt. 

Laboranten legten die Probe auf eine Zellkultur, um zu sehen, ob das Poliovirus wuchs. Als sie das Virus sequenzierten, stellten sie fest, dass es sich um Polio-Wildtyp 1 handelte. Die Probe wurde an ein Speziallabor des CDC in Atlanta weitergeleitet, wo weitere Tests den Befund bestätigten und feststellten, dass die genetische Sequenz der Probe mit einer Übertragungskette verbunden war, die zuletzt im Oktober 2019 in der pakistanischen Provinz Sindh beobachtet wurde.

Die Gene fungieren als eine Art "molekulare Uhr", erklärt Ousmane Diop, Koordinator des globalen Polio-Labornetzwerks der WHO. Wenn das Poliovirus übertragen wird, mutiert es mit einer Rate von etwa neun Mutationen pro Jahr. Anhand der Anzahl der Mutationen in der Probe konnten die Wissenschaftler feststellen, wie lange das Virus bereits im Umlauf war.

Ahmed sagt, die genetische Sequenz der Probe zeige, dass das Virus in die Region eingeschleppt worden sei. "Es hatte sich so stark verändert, dass klar war, dass es schon zwei Jahre oder länger im Umlauf war", sagt er.

Immer auf der Hut 

Die Überwachung auf akute schlaffe Lähmung ist der Goldstandard für den Nachweis von Polio-Fällen. Die Überwachung besteht aus vier Schritten:

  1. Suche nach Kindern mit einer AFP und Meldung der Fälle

  2. Weiterleitung der Stuhlproben an ein Labor zur Untersuchung

  3. Isolierung und Identifizierung des Poliovirus im Labor

  4. Kartierung des Virus zur Bestimmung des Ursprungs des Virenstamms

Quelle: Global Polio Eradication Initiative

Wie ihre Kollegen in Malawi suchten auch die Ärzte in den Vereinigten Staaten nicht nach Polioviren. Die letzte Infektion mit dem Polio-Wildvirus trat in den USA 1979 auf. 2014 waren unter ihren Patienten aber Kinder mit ähnlichen Symptomen. „Vor 50 Jahren hätten wir sofort eine Polioerkrankung vermutet“, sagt Routh. „Die Kinderlähmung war jedoch ausgerottet. Was war also die Ursache für die Lähmungserscheinungen?“ Wie die Forschung zeigte, können andere Viren aus derselben Familie wie das Poliovirus ähnliche Symptome verursachen. Ein Virus namens EV-D68 war vermutlich für die Ausbrüche in den Jahren 2014, 2016 und 2018 verantwortlich.  

Im Juni 2022 suchte ein ungeimpfter 20-jähriger Mann aus dem Bundesstaat New York die Notaufnahme auf. Er klagte über Rücken- und Bauchschmerzen, Nackensteifigkeit, leichtes Fieber und Schwäche in beiden Beinen. Die Ärzte vermuteten als Ursache eine akute schlaffe Myelitis (AFM), die der Poliomyelitis ähnlich ist. Da die AFM im Sommer besonders häufig auftritt, bat der Bundesstaat New York am Sommeranfang die Ärzte in einer Warnmeldung darum, besonders auf Patienten mit plötzlicher Muskelschwäche zu achten. 

Die fehlenden Reflexe und die Muskelschwäche in den Beinen des Patienten schienen auf eine AFM hinzuweisen. Deshalb wurden Stuhl- und andere Proben genommen, um sie auf AFM zu testen. Zur Überraschung aller war die Stuhlprobe positiv auf Polioviren. Die Gensequenzierung zeigte, dass es sich bei dem Erreger um eine Variante des Poliovirus Typ 2 handelte, die mit den in London und Jerusalem zirkulierenden Stämmen verwandt war. Mehrere Ausbrüche sind auf diese Variante zurückzuführen, die in unterimmunisierten Gemeinden auf der ganzen Welt zirkuliert. 

„Es war erstaunlich zu sehen, wie sich die ganze Arbeit seit 2014 zur Einrichtung des AFM-Überwachungssystems auszahlt“, sagt Routh, „und dass wir den ersten [Polio]-Fall in den USA seit sehr langer Zeit nachweisen konnten."

Pakistan ist eines von zwei Ländern, in denen Poliofälle gehäuft auftreten. Hier spielt die Umweltüberwachung eine wichtige Rolle beim Nachweis des Virus. Im Juni 2023 gab es im Land 114 Standorte, an denen Abwasserproben gesammelt werden. In den ersten sechs Monaten des Jahres wurde ein Prozent der Proben positiv auf das Virus getestet.

Weltgesundheitsorganisation (WHO)

Nach der Bestätigung des Wildpolio-Falls in Malawi reagierten die WHO, die CDC und andere internationale Partner sofort, da sie davon ausgehen mussten, dass das Poliovirus seit zwei Jahren in Afrika zirkuliert. Als erstes begannen sie mit der Vorbereitung einer Massenimpfung von mehr als 33 Millionen Kindern in Malawi und den benachbarten Ländern Mosambik, Tansania, Sambia und Simbabwe. 

Gleichzeitig wurde das gesamte medizinische Personal in diesen fünf Ländern geschult und angewiesen, während der Impfung der Kinder, für die sie jedes einzelne Haus aufsuchten, auf Polio-Symptome zu achten. Die verstärkte Überwachung führte dazu, dass acht weitere Kinder und Jugendliche in Mosambik mit Kinderlähmung identifiziert wurden. „Sie können sich vielleicht vorstellen, welches Chaos daraufhin ausbrach“, sagt Dr. Anyangwe, die im Rotary Club Pretoria in Südafrika Mitglied ist. Sie war für eine Einschätzung der Reaktion der Global Polio Eradication Initiative nach Mosambik gereist. 

Die Fälle konzentrierten sich alle in der nordwestlichen Provinz Tete von Mosambik, und die Behörden gehen jetzt davon aus, dass hier das Epizentrum des Ausbruchs lag. „Wir glauben, dass das Virus aus Mosambik eingeschleppt wurde“, erklärt Diop, „und dass der Fall in Malawi aufgrund der besseren Überwachung aufgedeckt wurde.“ 

Auch in den USA wurden die Behörden aktiv, in der Annahme, dass eine Typ 2-Polioerkrankung tausende von Infektionen mit leichtem oder asymptomatischem Verlauf bedeuten kann. Die CDC veranstalteten ein Webinar für Ärzte und hielten verstärkt nach Fällen von plötzlicher Muskelschwäche Ausschau. Die Gesundheitsbehörden bemühten sich um die Erhöhung der Impfraten. In Rockland County, dem Heimatkreis des an Polio erkrankten Mannes, waren nur 60 Prozent der Zweijährigen mit den empfohlenen drei Impfdosen grundimmunisiert, in einem Postleitzahlengebiet waren es sogar nur 37 Prozent. Der nationale Durchschnitt liegt bei 93 Prozent. 

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie lange und wie weit sich das Virus schon ausgebreitet hatte, griffen die CDC zu einem weiteren unverzichtbaren Instrument in ihrem Werkzeugkasten: der Umweltüberwachung.


Jetzt wo die Welt kurz vor der Ausrottung der Kinderlähmung steht, werden jedes Jahr nur noch sehr wenige Kinder durch Polio gelähmt. Hinter diesen Kindern stehen jedoch tausende von asymptomatischen Infektionen. Die Überwachung der akuten schlaffen Lähmung spürt in erster Linie Lähmungsfälle auf. Wie können wir aber die anderen Fälle erkennen?  

Auch hier liefern Stuhlproben die Antwort. Das Verfahren ist dasselbe wie bei der Stuhluntersuchung eines gelähmten Kindes. Nur werden in diesem Fall örtliche Abwasserproben analysiert. Mit diesem Prozess der Umweltüberwachung lassen sich nicht nur einzelne Kinder, sondern eine ganze Population von Kindern untersuchen. Um Dr. Tobolowskys Fischnetz-Analogie aufzugreifen: Indem sie im Abwasser nach dem Virus sucht, wirft die Umweltüberwachung ein breiteres Netz aus. 

Schon die alten Griechen machten das Abwasser – oder besser gesagt, die entströmenden Dämpfe – für die Übertragung von Krankheiten verantwortlich. Die Idee, dass Abwasser der eigentliche Übeltäter ist, kam in England in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. 1928 wurden Typhus-Erreger im Abwasser isoliert, und seit 1939 wird Abwasser nach wissenschaftlichem Konsens als Indikator für aktive Polioviren verwendet.  

Im Jahr 2000 begann die GPEI in Ägypten, wo die Poliomyelitis noch endemisch war, mit der Suche nach Polioviren in Abwasserproben. Diese Bemühungen trugen zur Ausrottung des Polio-Wildvirus in Ägypten bei. Dieser Erfolg veranlasste die GPEI dazu, die Umweltüberwachung ab 2009 auch in anderen polio-endemischen Ländern einzuführen und später auf weitere Länder auszudehnen. Andere Länder, die nicht der GPEI angehören, setzen auf das eigene Abwassermonitoring. Insgesamt, so Diop, wird die Umweltüberwachung an etwa 800 Standorten weltweit durchgeführt.

Mitarbeiterinnen des Gesundheitswesens entnehmen eine Abwasserprobe aus einer Kläranlage in der Nähe von Ushgorod in der Ukraine. 2021 wurden in dem Land zwei Kinder durch Polioviren Typ 2 gelähmt. Anhand der Umweltüberwachung können die Behörden mit Sicherheit feststellen, ob der Ausbruch wirklich zum Erliegen gekommen ist.

Weltgesundheitsorganisation (WHO)

In Ländern mit einer guten Kanalisation nehmen die Gesundheitsbehörden Proben von unbehandeltem Rohabwasser, bevor es in die Kläranlage gelangt. In der Realität sind die sanitären Anlagen in Gegenden mit dem höchsten Polio-Risiko aber oft mangelhaft. In einem solchen Fall orientieren sich die Gesundheitsbehörden an anderen aufschlussreichen Indikatoren für die Entnahme von Abwasserproben. Das können Orte mit einem unterentwickelten sozioökonomischen Umfeld, einem hohen Anteil an Migranten und Bevölkerungsbewegungen sowie häufige Ausbrüche von Polio und anderen Krankheiten in der Vergangenheit sein. 

Wird ein solcher Ort gefunden, wird anhand von Volkszählungsdaten und Satellitenbildern sowie topografischen Karten dieses Gebiets ermittelt, wo das Abwasser von den höchsten zu den niedrigsten Punkten fließt. „Ein geeigneter Standort weist normalerweise eine gute Strömung und kein stehendes Abwasser auf“, sagt Ahmed. „Wir versuchen, die Proben am Morgen zu entnehmen, weil zu dieser Tageszeit die meisten Menschen die Toilette benutzen.“ 

In Gebieten, die für Polio-Mitarbeiter normalerweise unzugänglich sind, genießen die Mitarbeiter der Abwasserentsorgung meist ein gewisses Vertrauen der Bevölkerung. Schließlich möchte niemand Abwasser vor seinem Haus abfließen sehen, fügt Diob erklärend hinzu. So können diese Kräfte in der Regel die notwendigen Proben entnehmen. 

Als im Februar 2022 der Poliofall in Malawi bestätigt wurde, stand das Land bereits auf der erweiterten Liste der GPEI für die Umweltüberwachung und hatte ein Team bereits mit den Vorarbeiten begonnen. „Nach Bekanntwerden des Falls reisten zwei oder drei Überwachungsmitarbeiter von Stadt zu Stadt, um geeignete Standorte für die Probennahme zu bestimmen“, sagt Ahmed. „Ich glaube, wir haben die ersten Umweltproben innerhalb von vier Tagen nach der Erklärung des Ausbruchs an einem der Standorte in Lilongwe entnommen. Innerhalb eines Monats gab es bereits acht oder neun Entnahmeorte im ganzen Land.“ Keine der Proben in Malawi testeten positiv auf das Polio-Wildvirus.  

In den umliegenden Ländern, auch in der mosambikischen Provinz Tete, dem Epizentrum des Ausbruchs, wurde die Umweltüberwachung ebenfalls intensiviert. Aufgrund fehlender geeigneter Probenentnahmeorte konnte das Polio-Wildvirus jedoch im Abwasser bislang nicht nachgewiesen werden. „Am nützlichsten war das AFP-Überwachungssystem“, sagt Ahmed. 

Eine positiv getestete Probe kann wertvolle Informationen liefern. So wurden im vergangenen Jahr in Botswana in Umweltproben Polioviren Typ 2 nachgewiesen. Mit zwei Impfrunden konnte die Krankheit gestoppt werden, bevor es zu Lähmungen kam. Eine negative Probe ist nicht so aussagekräftig wie eine positive Probe. Zwar kann ein negatives Ergebnis bedeuten, dass keine Krankheit vorliegt. Es kann aber auch auf eine schlechte Probenqualität oder die Entnahme am falschen Tag zurückzuführen sein. Eine Probe ist nur eine Momentaufnahme, betont Diop: „Sie bringt einen Mehrwert, aber sie ist kein Patentrezept für den Nachweis jedes Polioerregers“, sagt er. „Die Umweltüberwachung kann nur eine Ergänzung zur AFP-Überwachung sein, die nach wie vor der Goldstandard ist.“


Auch in den USA wurde das Ausmaß der Ausbreitung von Poliovirus-Varianten anhand von Abwasserproben bestimmt, was sich seit dem Ende der Corona-Pandemie weniger schwierig gestaltet. 

Studien hatten gezeigt, dass sich das COVID-19-Virus im Abwasser nachweisen lässt. Angesichts dieser Tatsache richteten die CDC 2020 das National Wastewater Surveillance System ein, um einen Anstieg von Infektionen erkennen zu können. Im Juni 2023 wurde an mehr als 1.400 Standorten in den gesamten USA das Abwasser auf das Coronavirus überwacht, was 40 Prozent der amerikanischen Bevölkerung entspricht. Die Standorte sammeln regelmäßig Daten und übermitteln sie an die CDC. 

Die zum Zweck der COVID-19-Überwachung gesammelten Proben wurden erneut herangezogen, nachdem der Poliofall im Bundesstaat New York bekannt wurde. „Der Bundesstaat New York hatte Umweltproben auf COVID getestet und aufbewahrt“, sagt Routh. „Wir konnte die Proben aus dem Regal nehmen und nachträglich auf Polio testen.“ Bei dem durch Polio gelähmten Patienten trat im Juni eine Muskelschwäche auf. Daraufhin wurden die im Mai und April in Rockland County und einem benachbarten Kreis gesammelten Proben erneut untersucht, von denen einige positiv auf das Poliovirus testeten. Dies deutete darauf hin, dass das Virus schon mehrere Wochen vor der Einlieferung des Patienten im Krankenhaus im Umlauf war. Wie nach dem Nachweis des Virus in Malawi führte dies auch hier zur Intensivierung der Polio-Impfungen bei ungeimpften Kindern und zu einer verstärkten Ausschau nach Symptomen einer Polio-Infektion. 

Die Gesundheitsbehörden weiteten daraufhin ihre Suche nach dem Virus auf New York City aus, einem beliebten Reiseziel von Menschen aus dem Ort des Patienten, auf umliegende Landkreise sowie auf Orte mit ähnlichen Bevölkerungsgruppen in den benachbarten Bundesstaaten Connecticut und New Jersey. Während keine der Proben in diesen beiden Bundesstaaten positiv war, wurden in den Abwasserproben in New York bis Oktober 2022 durchgängig Polioviren nachgewiesen. Danach gingen die positiven Proben stark zurück (Poliomyelitis ist statistisch gesehen in gemäßigten Klimazonen eher eine Sommerkrankheit). Seit Ende Februar waren alle Abwasserproben negativ. Jetzt planen die CDC die Ausweitung der Tests auf Gemeinden in anderen Bundesstaaten mit niedrigeren Impfraten. 

„Wir sind wirklich dankbar“, sagt Routh. „Zu Sommerbeginn hatten wir befürchtet, dass mehr Virus im Abwasser auftauchen könnte oder dass Polioviren aus anderen Landkreisen, in dem der Ausbruch noch andauert, wieder eingeschleppt werden könnten. Wir hoffen inständig, dass es nicht dazu kommt.“ 

Auch Ahmed ist gespannt, ob der Ausbruch des Polio-Wildvirus in Afrika eingedämmt werden kann. „Das Poliovirus ist sehr trickreich“, sagt er. „Es kann ziemlich lange unerkannt zirkulieren. Wir sagen immer, dass es auf eine Kombination aus guter Überwachung und Zeit ankommt.“ 

Ein Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums in Nord-Darfur, Sudan, nimmt vor einem Gesundheitszentrum in al-Fasher eine Umweltprobe für den Polionachweis. Das Überwachungsniveau muss aufrechterhalten werden, um jedes neue Auftreten des Virus schnell zu erkennen.

Weltgesundheitsorganisation (WHO)

Derzeit wird daran gearbeitet, die Empfindlichkeit der Tests zu erhöhen, damit das Virus selbst bei sehr geringer Übertragungsrate in Abwasserproben erkannt wird. Das „Fischnetz“ soll so engmaschig werden, dass keine Fälle mehr durchschlüpfen können. „Dies wird auch für die Nachzertifizierung wichtig sein“, sagt Diop, „um sicherzustellen, dass wir kein Poliovirus übersehen.“   

Auch das kontinuierliche Testen von Proben in Gebieten mit hohem Risiko ist wichtig, denn eine negative Probe könnte einfach nur auf die Entnahme an einem ungeeigneten Tag zurückzuführen sein. Durchgehend negative Testergebnisse lassen das Vertrauen der Behörden steigen, dass die Kinderlähmung wirklich verschwunden ist. 

Das Labornetzwerk der GPEI, sowohl seine Mitarbeiter als auch die physische Laborinfrastruktur, spielte mit seiner 30-jährigen Erfolgsbilanz eine wichtige Rolle bei der COVID-19-Überwachung. Die Experten des Polio-Labornetzwerkes halfen bei der Einrichtung nationaler Verfahren für Corona-Tests, und das Laborpersonal unterstützte den Virusnachweis tatkräftig mit. „Wir haben die Kompetenzen“, sagt Ahmed. „Außerdem profitieren wir von der Infrastruktur, die während der Corona-Pandemie ausgebaut wurde und mehr Personal mit Fachwissen in der Sequenzierung einstellte. Das Labornetzwerk ist ein Gewinn für die öffentliche Gesundheit in Afrika.“ 

Das erweiterte Netzwerk für die Abwasserüberwachung rund um den Planeten birgt ein enormes Potenzial für die Zukunft. „Die Einsatzmöglichkeiten sind endlos“, meint Roth. „Ich würde es gern gegen die Grippe einsetzen. Lassen sich beispielsweise damit die Stämme für die Grippesaison in den USA vorhersagen und die Impfstoffe schneller anpassen?“ 2022 testeten US-Forscher Abwasserproben auf das Mpox-Virus, früher als Affenpocken bekannt. Abwasserproben lassen sich auch für andere Zwecke verwenden, wie die Überwachung des Opioidkonsums, die Vorhersage von Fettleibigkeitsraten in einer bestimmten Gemeinde bis hin zur Suche nach arzneimittelresistenten Tuberkulosestämmen, um schneller auf diese Probleme reagieren zu können.  

Die Zukunft der Polioeradikation liegt in der Überwachung. Die abwasserbasierte Epidemiologie wird ein wichtiges Instrument bei diesen Überwachungsbemühungen sein. Sie könnte in der Zukunft auch eine zentrale Rolle bei der Lösung von anderen Problemen der öffentlichen Gesundheit sein. Das bedeutet, dass sich die Investitionen von Rotary in die Überwachung auf viele Jahre hinweg auszahlen werden.

Aus: Rotary Oktober 2023

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