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Ukraine: Rotarische Stärke in Krisenzeiten

Vergangene und aktuelle Konflikte haben erheblichen Einfluss auf Rotary in der Ukraine. Die dortigen Mitglieder lassen sich aber nicht entmutigen – ganz im Gegenteil

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Die Ukraine ist die Kornkammer Europas und ein Land von erheblicher technologischer und strategischer Bedeutung, aber sie hat eine turbulente Geschichte hinter sich. Die Zunahme der Spannungen bis zum Ausbruch des Krieges in der Ukraine, der im Februar begann, erfüllte viele Mitglieder von Rotary auf der ganzen Welt mit großer Sorge, unter anderem auch wegen der Zukunft von Rotary im zweitgrößten Land Europas.

Diesen Turbulenzen begegnen die Rotary-Mitglieder in der Ukraine mit Durchhaltevermögen und einem unerschütterlichen Engagement für den Frieden. Um mehr über Rotarys wechselvolle Geschichte in der Ukraine in den letzten zehn Jahren zu erfahren, hat das Rotary Magazin für Deutschland und Österreich diesen Bericht zusammengestellt. Im ganzen Land dauert der Krieg derzeit unvermindert an. Deshalb werden wir Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt Updates über Rotarys Situation dort geben und darüber, wie Rotary Clubs auf der ganzen Welt sich engagieren, um ukrainischen Flüchtlingen zu helfen.

Rückblick und Ausblick auf die Zukunft

Rotariets, das regionale Rotary-Magazin in der Ukraine

Hier zunächst einige Hintergrundinformationen über Rotary in der Ukraine, die das Regional-Magazin Rotariets aufbereitet hat:

Die ersten Rotary Clubs innerhalb der aktuellen Grenzen der Ukraine wurden in den 1930er-Jahren in den Städten Uschhorod, Czernowitz und Lemberg gechartert. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beschloss Rotary International, die Rotary Clubs in den besetzten Gebieten auszusetzen. Während des Kalten Krieges wurden die Clubs dann in Ländern unter kommunistischer Herrschaft gewaltsam aufgelöst.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR versuchten mehrere Clubs in Europa und Nordamerika, Rotarys Präsenz in den ehemaligen Sowjetländern wieder aufzubauen. Lubomyr „Lu“ Hewko, der Vater von John Hewko, CEO und Generalsekretär von Rotary International, spielte eine wichtige Rolle dabei. Seine Familie floh im Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine in die USA, und Jahre später, als Präsident des Rotary Clubs Clarkston, Michigan, organisierte er mehrere Rotary-Projekte: die Lieferung medizinischer Geräte an ukrainische Krankenhäuser, die Unterstützung der Opfer der Atomkatastrophe von Tschernobyl und die Rekrutierung von Ärzt/innen zur Durchführung von Augenoperationen für Bedürftige. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, half Lu, den ersten Rotary Club in der Hauptstadt Kyjiw zu chartern. John Hewko ist Gründungsmitglied.

In den frühen 1990er-Jahren war die Ukraine Teil des Distrikts 1420, zusammen mit allen Clubs in der ehemaligen UdSSR, sowie einigen in Finnland. Die Distrikt-Zugehörigkeit wechselte ein paar mal, bis RI schließlich im November 1999 beschloss, die Ukraine und Weißrussland in den Distrikt 2230 mit Polen zu integrieren. Dies kam am 1. Juli 2000 zum Tragen. Mit dem stetigen Wachstum von Rotary in diesen drei Ländern wurde im Juli 2016 der bestehende Distrikt in D2231 (Polen) und D2232 (Ukraine, Belarus) aufgeteilt.

Die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 und der bewaffnete Konflikt in den Regionen Donezk und Luhansk (gemeinsam als Donbass bekannt) haben bis heute Einfluss auf die Entwicklung von Rotary in der Ukraine – mit sehr gegensätzlichen Auswirkungen. Im Jahr 2013 gab es sieben Rotary Clubs (mit insgesamt etwa 110 Mitgliedern) auf der Krim und in den heute besetzten Gebieten des Donbass. Davon sind heute nur noch zwei Clubs übrig, und beide befinden sich auf der Krim: der Rotary Club Simferopol und der Rotary Club Aluschta. Zusammen haben beide 14 Mitglieder.

Im Rest der Ukraine ist die Situation jedoch genau umgekehrt. Es gibt seit Beginn des Konflikts einen enormen Zulauf. Der Wille, sich in der Gesellschaft im humanitären Geiste zu engagieren, ist stark ausgeprägt. Seit 2014 ist Rotary hier von 49 auf 62 Clubs und zusätzlich sechs Satelliten-Clubs sowie von 800 auf 1.100 Mitglieder gewachsen. Und die Mitglieder von Rotary in der Ukraine sind sehr optimistisch, was das weitere Wachstum der Organisation angeht.

Lubomyr „Lu“ Hewko (rechts) nimmt 1993 an einem Dienstprojekt in der Ukraine teil.

Ein virtueller Club

Tatiana Godok, Präsidentin elect des Rotary E-Clubs Ukraine

Meine Geschichte bei Rotary begann, als ich in der Abschlussklasse der weiterführenden Schule war. Der neu gegründete Rotaract Club Jalta machte sich ehrgeizig daran, einen Interact Club zu gründen, und ich hatte damals das Glück, ein Teil davon sein zu dürfen. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht viel über Rotary und die komplexe Cluborganisation, aber die Möglichkeit eines Jugendaustausches fand ich sehr interessant. Mehrere Monate lang besuchten wir mit einer Gruppe von Schulkindern andere Interact Clubs in Charkiw und Tscherkassy. Ich lernte mehr über Rotary und vertiefte mich allmählich in die Ideen und Werte dieser Service-Organisation. Nach einer Weile trat ich voller Überzeugung dem Rotaract Club Jalta bei. Ich versuchte mich in verschiedenen Clubfunktionen – Präsidentin und Schatzmeisterin – und lernte Rotaract europaweit kennen.

Bis zur Annexion der Krim hatte ich eine sehr aktive Rotaract-Karriere: Ich reiste oft zu Rotaract Europe Meetings (REM) quer durch Europa, zu „Rotary Youth Leadership Award“-Seminaren (RYLA) in die Türkei, zum „Portugal Trip“ nach Portugal und unzählige Male zu Konferenzen, Seminaren oder einfach zu Rotaract-Freunden in die Ukraine. Wir haben gerne und stolz gesamtukrainische und Distriktveranstaltungen in Jalta ausgerichtet.

Die Annexion der Krim machte es nicht nur unmöglich, diese Aktivitäten fortzusetzen, sondern zwang auch viele Rotaract- und Rotary-Mitglieder, die Halbinsel zu verlassen und in verschiedene Richtungen zu fliehen. Ich zog nach Lemberg in der Westukraine, aber die mit der Flucht verbundenen emotionalen Traumata, die ich erlebte, erlaubten es mir lange nicht, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden und mich zu integrieren. Eine gute Nachricht war deshalb die Gründung des Rotary E-Clubs Ukraine, der es früheren Krim-Bewohner/innen und Rotary-Mitgliedern aus anderen besetzten Gebieten ermöglichen soll, weiterhin Teil von Rotary zu sein. Die gegenseitige Unterstützung war gerade in der ersten Zeit enorm hilfreich.

Später zog ich nach New York, um Biologie zu studieren, und dann nach Philadelphia, um in einem Forschungslabor zu arbeiten. Das virtuelle Format des Clubs ermöglicht es mir zum Glück, unabhängig vom Wohnort Rotarierin zu bleiben, wenngleich die unterschiedlichen Zeitzonen berücksichtigt werden müssen.

Es ist gut, dass unser Club im Laufe der Jahre neue Mitglieder aus der ganzen Ukraine aufgenommen hat. Im vergangenen Jahr wurde ich zur Clubpräsidentin für 2022/23 gewählt. Ich bin sehr dankbar für das mir entgegengebrachte Vertrauen und freue mich auf unser erstes Treffen. Ich möchte auf jeden Fall, dass es „virtuell“ vor einem Hintergrundbild des Jalta-Gebirges auf der Krim stattfindet. Das ist und bleibt meine Heimat.

Ein Vater und sein Sohn genießen einen unbeschwerten Moment in Kyjiw.

Im Geiste des Friedens aktiv

Yulia Zharikova, Sekretärin des Rotary Clubs Kyiv Advance

Die Geschichte des Rotary Clubs Kyiv Advance begann Ende 2013, als mehrere Gleichgesinnte im Rotary Club Donezk Advance beschlossen, zu Ehren des berühmten Musikers Sergei Prokofjew, der in der Region Donezk geboren wurde, den Satelliten-Rotary-Club Donezk Advance Prokofjew zu gründen. Uns verbindet der Gedanke, dem Gemeinwesen der Stadt zu dienen, sowie die große Liebe zur Kunst. Von Anfang an unterstützte der Club junge Talente und widmete seine Zeit der Entwicklung von Bildungsprogrammen in der Stadt.

Im Jahr 2014 flohen die Mitglieder des Clubs infolge des Ausbruchs des militärischen Konflikts in der Ostukraine in verschiedene Teile des Landes und sogar ins Ausland. Als vier Mitglieder des Clubs infolgedessen nach Kyjiw zogen, wurde beschlossen, die Aktivitäten des Clubs wieder aufzunehmen, jedoch bereits unter dem Namen Donezk Advance. Vier weitere Mitglieder, die in andere Länder gezogen oder in Donezk geblieben waren, entschieden sich in der Folge, ebenfalls Mitglieder des Clubs zu bleiben. Somit blieben letztlich acht Mitglieder übrig.

Zweieinhalb Jahre später wurde beschlossen, den Namen des Clubs gemäß der Satzung von Rotary International zu ändern. Zu dieser Zeit hatte der Club fünf in Kyjiw lebende Mitglieder, die den Namen Rotary Club Kyiv Advance vorschlugen. Der neue Name steht seitdem für Erfolg, der Club ist stark gewachsen und hat sogar 2019 eine Auszeichnung vom Governor des Distrikts 2232 für die größte Anzahl aufgenommener Mitglieder erhalten – wir waren auf 30 angewachsen!

Aufgrund unserer Erfahrungen aus dem Konflikt in der Ostukraine haben wir Friedensförderung und Konfliktprävention zu einem Schwerpunkt unserer Projekte gemacht. Ein solches Projekt, das seit 2017 läuft, bietet Schulungen für verschiedene Gruppen an, um den Dialog zur Versöhnung auf mehreren Ebenen der ukrainischen Gesellschaft zu fördern. Darüber hinaus engagieren sich seit fünf Jahren Clubmitglieder in einem großen internationalen Projekt zur psychologischen Rehabilitation von Kindern, die von den kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten betroffen sind.

Das Sankt Michaelskloster mit seinen Goldkuppeln ist der Sitz der orthodoxen Kirche der Ukraine.

Rotary vereint über Grenzen hinweg

Mykola und Olga Stebljanko, Rotary E-Club Ukraine

Unser rotarisches Leben begann 1996, als wir uns der Idee anschlossen, den ersten Rotaract Club auf der Krim zu gründen – den Rotaract Club Simferopol. Seitdem ist Rotary ein fester Bestandteil unseres Lebens. Unsere zehnjährige Rotaract-Vergangenheit ist inzwischen ein klassisches Beispiel für die Entwicklung junger Führungskräfte geworden, die die Voraussetzungen für einen natürlichen Übergang in die Reihen der Mitglieder von Rotary Clubs geschaffen hat.

Im Jahr 2007 bin ich Herausgeber der offiziellen Rotary-Publikation, der Zeitschrift Rotariets (Rotarier), in der Ukraine und in Belarus geworden. Seit 2011 unterstützt Olga die Produktion der digitalen Version.

Im Rotary-Jahr 2013/14 war ich Präsident meines Clubs, aber als die Halbinsel Krim während meiner Amtszeit annektiert wurde, mussten wir nach Odessa ziehen. Um unsere Aktivitäten in der rotarischen Gemeinschaft fortzusetzen, haben wir beschlossen, den Rotary E-Club Ukraine zu gründen. Diese damals neue Art von Club half uns und anderen Rotary-Mitgliedern von der Krim und dem Donbass, die Rotary-Mitgliedschaft zu behalten. Unser Club bringt Menschen zusammen, die Tausende von Kilometern über den ganzen Planeten verstreut sind. Für die Amtszeit 2019/20 wurde ich zum Governor des Distrikts 2232 gewählt. Seit diesem Jahr bin ich Rotary Public Image Coordinator für die Zone 21A. Olga war mehrere Jahre Vorsitzende des Subkomitees für weltweite Rotary-Stipendien, und seit 2018 ist sie die Vorsitzende des Komitees für den Rotary-Jugendaustausch des Distrikts. Zusammen setzen wir unsere professionelle Arbeit fort, um die Zeitschrift „Rotariets“ herauszugeben und virtuelle Veranstaltungen von Rotary im Distrikt 2232 und der Zone 21 anzubieten.

Links: 1996 traten Olga und Mykola Stebljanko Rotary bei, als sie den ersten Rotaract Club auf der Krim gründeten. Rechts: Mykola wurde später Mitglied im Rotary Club Simferopol.

Niemand wird alleingelassen

Oleksiy Kuleshov und andere Mitglieder vom Rotary Club Sloviansk

Das Jahr 2014 war für uns ein Jahr der Prüfungen – Prüfungen bezüglich Stärke, Anstand, Ausdauer und Menschlichkeit. Das Positive: An diesem Punkt drehte sich das Rotary-Rad mit neuer Kraft und vereinte erneut eine große Anzahl von Menschen aus verschiedenen Ländern, unterschiedlichen Glaubensrichtungen und unterschiedlichem Wohlstand mit einer Idee – der Idee, der Gesellschaft zu dienen. In der Ukraine halfen Rotary-Mitglieder aus Lemberg, Charkiw, Dnipro, Poltawa, Kyjiw, Iwano-Frankiwsk, Czernowitz und den Konfliktgebieten von Donezk — damals war das noch möglich — den Menschen, die vor dem Krieg geflohen waren, ebenso wie Rotarier/innen aus Moskau und Krasnodar in Russland.

Sie reichten Menschen die Hand, die ohne Existenzgrundlage mit ihrem Elend alleingelassen wurden. Einige schickten Lebensmittel und Kindernahrung, andere Kleidung und Körperpflegeprodukte und wieder andere Medikamente. Wir kümmerten uns vor Ort um die Logistik, organisierten Treffen und halfen sogar bei der Ansiedlung Geflüchteter. Wir servierten Mahlzeiten, gingen mit Geschenken, Büchern, Kleidung in umkämpfte Gebiete und lieferten abends Lebensmittelpakete an große Familien. Es war uns sogar gelungen, zusammen mit dem Rotary Club Lviv eine mobile Zahnarztpraxis zu organisieren.

Links: Kinder in der Ostukraine drängen sich in eine mobile Zahnarztpraxis. Rechts: Piotr Wygnańczuk, der damalige Governor von District 2230, mit Olga Stebljanko.

Dieser Beitrag ist eine Bearbeitung des Originalartikels aus dem Rotary Magazin für Deutschland und Österreich, Februar-Ausgabe 2022.
Der bearbeitete Beitrag erschien außerdem in der April-Ausgabe 2022 des US-amerikanischen Magazins Rotary.

Die Rotary Foundation hat einen offiziellen Spendenkanal eingerichtet, um die laufenden Hilfsaktionen in der Region zu unterstützen.

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