Skip to main content

Leben in Kriegszeiten: ein Bericht von der Front

Skip to main content

Kurz vor dem Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine reiste Wen Huang vom Rotary Magazine nach Europa, um die Reaktion der Rotary-Mitglieder auf diese humanitäre Krise aus erster Hand zu erleben. Im ersten Teil seines zweiteiligen Berichts macht Huang auf seinem Weg in die Ukraine in Polen Halt.

Text:

Die Rotary Foundation richtete HIlfsfonds für die Ukraine ein.
Mehr dazu

Vor dem Warschauer Hauptbahnhof werde ich von der leuchtenden Gitarrenwerbung des Hard Rock Cafés begrüßt. Ich mache ein Foto davon und schicke es an einen befreundeten Journalisten, dessen Frau früher T-Shirts der Restaurantkette in ehemaligen kommunistischen Ländern sammelte. Zusammen mit anderen Kennern der Popkultur ist sie vom Zusammenhang zwischen dem Rock 'n' Roll und dem Fall des Kommunismus in Osteuropa überzeugt. Für mich ist die Gitarre ein Beispiel für das lautstarke Bekenntnis zur modernen Identität Polens.

Als ich mich nach dem Rest von Warschaus Stadtzentrum umschaue, bleibt mein Blick am Kultur- und Wissenschaftspalast hängen. Das gewaltige Bauwerk ist fast 240 Meter hoch und das zweithöchste Gebäude in Polen. 1952 begonnen und im sowjetischen Stil errichtet, wurde das Hochhaus nach Stalins Tod fertiggestellt. Es erinnert an das Empire State Building und war ein „Geschenk“ Moskaus an den widerspenstigen Satellitenstaat. Nachts wird das Gebäude als Zeichen der Solidarität mit dem belagerten Nachbarn in den Nationalfarben der Ukraine – Gelb und Blau – angestrahlt. Das Symbol der kommunistischen Vergangenheit Polens überragt die nahe gelegenen Einkaufszentren, die mit Weihnachtsbeleuchtung und Leuchtreklamen westlicher Modemarken geschmückt sind.

Es ist kurz vor 20 Uhr, und obwohl meine Blicke auf die Umgebung vor dem Bahnhof gerichtet sind, bin ich in Gedanken bei den kommenden Tagen. In meiner Karriere als Journalist habe ich über internationale Krisen, gewaltsame Revolutionen und Naturkatastrophen in aller Welt berichtet. Ich wollte in die Ukraine reisen, um mir selbst ein Bild vom Leiden der Millionen von Menschen zu machen, die seit dem russischen Einmarsch Ende Februar 2022 in ihrer Heimat ausharren. 

Von meinem Zuhause in Chicago aus verfolgte ich aufmerksam die Kriegsnachrichten. Als Mitarbeiter von Rotary erhielt ich fast täglich Berichte über die Hilfe unserer Mitglieder für die Menschen in der Ukraine und für jene, die in die Nachbarländer fliehen mussten. Beim Rotary Magazine, dessen Chefredakteur ich bin, hielten wir schon früh wöchentliche Videokonferenzen mit ukrainischen Rotary-Mitgliedern ab. Wir sahen, wie die Rotary Foundation in den ersten drei Monaten nach dem Überfall 15 Millionen Dollar für Initiativen zur Unterstützung der vom Krieg betroffenen Menschen sammelte. All dies verstärkte nur noch meinen Wunsch, den Gemeinschaftsgeist der humanitären Armee, die der Ukraine zur Hilfe eilte, aus erster Hand zu erleben.  

Und genau diese Gelegenheit ergab sich unerwartet im vergangenen Herbst, als ich in Berlin Urlaub machte. Mykola Stebljanko, der Herausgeber des rotarischen Regionalmagazins in der Ukraine Rotariets, lud mich nach Lemberg, die größte Stadt im Westen der Ukraine, ein. Da Lemberg nicht weit von der polnischen Grenze entfernt liegt, schlug er mir vor, zusammen mit ihm und anderen Rotary-Mitgliedern dort an einem Foundation-Seminar teilzunehmen. Ich müsste nur nach Warschau reisen, alles andere würde sich dann von selbst ergeben.

Und so stehe ich an diesem Oktoberabend in der polnischen Hauptstadt unter der Gitarre des Hard Rock Cafés und warte auf die Gründungspräsidentin des Rotaract Clubs Warszawa City Paulina Konopka. Pola, wie die 30-jährige Rotaracterin genannt werden möchte, geht mit mir in ein nahe gelegenes Restaurant. Dort erzählt sie mir bei einer Peperoni-Pizza, dass sie zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs mit ihrer Familie im Flugzeug auf die Malediven saß. Nach der Landung nahm sie sofort Kontakt zu ihren Rotaracter-Freunden in Warschau auf, um zu überlegen, wie man helfen könne. „Im ersten Kriegsmonat schien unser ganzes Land, von der Regierung bis zu den Unternehmen, alles stehen und liegen zu lassen, um den Flüchtlingen in Polen und den Menschen in der Ukraine zu helfen“, sagt sie. „Als Mitglied von Rotary will man instinktiv helfen.“ 

Pola Konopka, Gründungspräsidentin des Rotaract Clubs Warszawa City  

Wen Huang

In den sozialen Medien baten die Warschauer Rotaracter ihre Freunde in anderen Ländern um Spenden. Gemeinsam mit dem Rotaract Club Wilanów International richtete Polas Club in einem Vorort der Stadt ein langfristiges Flüchtlingsheim für etwa 40 ukrainische Frauen und Kinder ein und organisierte gesellige Events für die Geflüchteten, von Kochveranstaltungen bis hin zu Discos. Samstags besuchten die Clubmitglieder das Heim mit Geschenkgutscheinen im Gepäck und gingen mit den Heimbewohnern Einkaufen. „Wir treffen uns auch wöchentlich zum Polnisch- und Englischunterricht und helfen ihnen, sich in ihrem neuen Land einzuleben“, so Pola weiter. 

Im ersten Monat nach Kriegsbeginn nahm Polen etwa 2 Millionen ukrainische Flüchtlinge auf, von denen etwa 300.000 in Warschau unterkamen. Viele sind aber inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, so wie auch etwa die Hälfte der 40 Geflüchteten aus der von Rotary eingerichteten Unterkunft. „Viele haben einfach ihre Heimat und ihre Ehemänner, Brüder und Großeltern vermisst“, erklärt Pola. Der Wegfall von Subventionen der polnischen Regierung für Lebensmittel und Transportmittel sowie die kriegsbedingt hohen Energie- und Lebensmittelkosten könnten ebenfalls dazu beigetragen haben. Pola und die anderen Rotaracter werden den Zurückgebliebenen weiterhin helfen, Arbeit zu finden und Polnisch zu lernen. 

Durch die verstärkte russische Bombardierung ukrainischer Städte im Herbst könnten sich die Menschen erneut zur Flucht nach Polen gezwungen sehen. Die Warschauer Rotaracter „werden sich auf die Aufnahme und Unterstützung dieser Menschen vorbereiten.“

Später treffe ich an der Hotelbar auf Ed Zirkle, einen Rotarier aus Ohio, der Fotograf und Dokumentarfilmer ist. „Als ich im Fernsehen das Unrecht in der Ukraine sah, musste ich einfach dorthin und es dokumentieren“, sagt er und nippt an seinem Wodka auf Eis. Als er vom Foundation-Seminar des Rotary Clubs Lemberg hörte, beschloss er, in die Ukraine zu reisen. Er hofft, dort Rotary-Mitglieder zu treffen und sich von ihnen durch das Land führen zu lassen. Seine Bitte wurde an Mykola Stebljanko weitergeleitet, der vorschlug, dass wir zusammen reisen. Jetzt warten Ed und ich auf weitere Anweisungen..

Mittwoch, 10:15 Uhr, Konstancin-Jeziorna

Am nächsten Morgen werden wir von Jacek Malesa, Past Präsident des Rotary Clubs Warszawa Fryderyk Chopin, zu einem Besuch des von Rotary Clubs eingerichteten Flüchtlingsheims in der alten Kleinstadt Konstancin-Jeziorna südlich von Warschau eingeladen. Der 58-jährige Wirtschaftsprüfer für Medienunternehmen nahm sich dafür extra einen Tag frei. Ehrenamtlich für Rotary unterwegs zu sein, mache mehr Spaß, meint er.

  1. Das von polnischen Rotary Clubs eingerichtete Hilfs- und Bildungszentrum für ukrainische Geflüchtete

    Ed Zirkle

  2. Von Schulkindern in New Hampshire gebastelte blaue und gelbe Schmetterlinge verzieren die Wände des Zentrums. 

    Ed Zirkle

  3. Ein Kind im Zentrum zeigt stolz ein Bastelprojekt.

    Ed Zirkle

  4. Warschaus Kultur- und Wissenschaftspalast

    Ed Zirkle

  5. Knder hören in dem Zentrum einem Konzert zu.

    Ed Zirkle

Das Hilfs- und Bildungszentrum für ukrainische Geflüchtete befindet sich in einem dreistöckigen Betongebäude in einer ruhigen Straße nahe des Stadtzentrums. Die Wände sind mit blauen und gelben Papierschmetterlingen verziert, die Schulkinder aus dem US-Bundesstaat New Hampshire für die ukrainischen Kinder gebastelt haben. Wir besuchen einen schlicht eingerichteten Raum, in dem zwei Mädchen und vier Jungen an einem großen Tisch sitzen und Augen und Nasen auf gelbe Papierhände malen. Anfangs sind sie noch etwas schüchtern, doch bald tauen sie auf und reden begeistert auf uns ein. Ich bekomme nur Wortfetzen mit und die Übersetzer haben Mühe, mit dem Wortschwall Schritt zu halten. 

Die Kinder kommen aus den ukrainischen Städten Kiew, Cherson und Charkiw. „Ihre Väter sind beim Militär, und sie kamen mit ihren Müttern und Geschwistern hierher“, erklärt Malesa. „Von ihren Angehörigen getrennt zu sein, belastet sie sehr. Ihr hättet sie sehen sollen, als sie hier eintrafen. Sie reagierten überhaupt nicht und sprachen kein Wort. Durch unsere Betreuung hat sich ihr Zustand dramatisch verbessert.“ 

Nach dem Zeichenunterricht gehen die Lehrkräfte in der Pause mit den Kindern nach draußen. Auf einem kleinen Tennisplatz in einem nahe gelegenen Park verzieht sich ein Junge mit einer blauen Jacke und einer Mütze mit der Aufschrift „I love Dad“ in eine Ecke und spielt mit einem Fußball. Seinen Augen ist die Trauer noch immer anzusehen. Eine Frau in einem roten Pullover geht zu dem Jungen hin und nimmt ihn in die Arme. Sie ist die 36-jährige Luliia Cherkasbyna und Betreuerin des Jungen. Luliia stammt aus Kiew und ist seit Beginn des Krieges in Warschau. In ihrer Heimat arbeitete sie mit autistischen Teenagern mit Sozialisationsproblemen. „Mir macht die Arbeit im Rotary-Zentrum Spaß. Sie gibt mir das Gefühl, etwas für die Zukunft meines Landes zu tun“, sagt sie.  

Vor der Eröffnung des Zentrums im Juni luden die Rotary-Mitglieder einige der besten Psychotherapeuten aus Israel ein, um die ukrainischen Psychologen in der Therapie und Betreuung von Kindern auszubilden. Sie zeigt auf die Kinder und sagt: „Seht, wie sie lächeln. Es ist so schön zu sehen, welchen Unterschied Rotary und andere gutherzige polnische Menschen bei diesen Kindern bewirkt haben.“

 

Luliaa Cherkasbyna arbeitet als Betreuerin im Ukrainischen Hilfs- und Bildungszentrums und passt bei einem Besuch des Ententeichs im Park nebenan auf die Kinder auf.

Wen Huang

Mittwoch, 15:30 Uhr, Warschau

Malesa geht mit uns in ein traditionelles polnisches Restaurant in einer bewaldeten Umgebung. Wir löffeln Borschtsch und warten auf die Hauptspeisen – Beefsteak Tatar, Pierogi und Plinsen – als mir Malesa sein Handy reicht. Der Präsident des Rotary Clubs Warszawa Fryderyk Chopin Michał Skup ist am Telefon und teilt uns die neuesten Reisepläne mit: Zirkle und ich werden uns in der polnischen Stadt Zamość mit ukrainischen Rotariern treffen, die ein paar Tage später gemeinsam mit uns über die Grenze nach Lemberg fahren werden.   

Da sein Club den Namen meines Lieblingskomponisten trägt, schlage ich vor, dass wir uns vor unserer Abreise nach Zamość für ein Foto vor dem Chopin-Denkmal im Łazienki-Park im Zentrum Warschaus treffen.

Mit Brille, in einem dunkelblaues Sakko und weißem Hemd sieht Rotarier Skup, der in der Warschauer Niederlassung eines internationalen Konzerns als Justiziar arbeitet, nicht nur schick, sondern auch topfit aus. Erst kürzlich legte er auf einer 10-tägigen Radtour von Warschau in die italienische Toskana rund 1.500 km zurück, um Geld für den Kauf eines Kleinbusses für das Flüchtlingszentrum zu sammeln. Nach der Schilderung meines Besuchs im Zentrum erzählt mir Skup auf Englisch – in seiner Jugend hatte er viele Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt – ein paar Geschichten über die Entstehung des Zentrums. 

Für die Menschen in Polen war es ein Schock, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Viele tankten ihre Fahrzeuge voll, weil sie Angst hatten, dass Russland auch Polen angreifen könnte und sie dann fliehen müssten. „Meine Frau packte unsere Koffer und war zur Flucht bereit, wenn die Russen kommen“, sagt er. „Die Hilfsbereitschaft von so vielen guten Menschen auf der ganzen Welt konnte zum Glück unsere Angst besänftigen. Über unsere Club-Websites, in E-Mails oder in Anrufen wurden wir gefragt, wie man uns helfen kann.“ 

Michał Skup und Jacek Malesa vor dem inspirierenden Chopin-Denkmal in Warschau.

Ed Zirkle

Zusammen mit anderen Rotary-Mitgliedern gründete Skup eine Arbeitsgruppe, der teilweise Mitglieder aus bis zu 14 Rotary Clubs oder Distrikten aus aller Welt angehörten. Auf wöchentlichen Videokonferenzen erörterten sie Möglichkeiten der Spendensammlung und von Hilfsaktionen. „Am Anfang hatten wir keine Ahnung, wie lange der Krieg dauern würde“, sagt Skup. „Viele Flüchtlinge befanden sich in einem Limbo und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Sie brauchten Unterstützung, um Resilienz aufzubauen und vor allem den Kindern ein normales Leben zu ermöglichen. Ich glaubte nicht, dass dieser Krieg schnell vorbei sein wird. Deshalb mussten wir uns überlegen, wie wir den Flüchtlingen langfristig helfen können.“ 

Mit der finanziellen Unterstützung aus Disaster Response Grants und mit Spenden von örtlichen Unternehmen, Einzelpersonen und Rotary-Mitgliedern in Deutschland, Kanada, Japan, Korea und den USA konnte die Gruppe im September das Zentrum eröffnen. Die eingestellten Psychologen, Lehrkräfte und der Zentrumsleiter, fast ausschließlich ukrainische Flüchtlinge, wurden in der Beratung und Ausbildung von Kindern und anderen kriegstraumatisierten Menschen geschult. „Das Ganze ist für mich surreal“, meint Skup. „Obwohl wir so viel Unheil in der Ukraine erleben, sind all diese guten rotarischen Menschen aus eigenen Stücken auf uns zugekommen und haben ihre Hilfe angeboten. So viel Güte ist einfach unvorstellbar.“  

Während unseres Gesprächs fiel mehrfach der Name Alex Ray. Ray ist Mitglied im Rotary Club Plymouth in New Hampshire und spendete mehr als 300.000 Dollar für das Zentrum. „Er ist in der Ukraine“, sagt Skup. „Kann sein, dass du ihm begegnest.“ 

Wie schon Pola am Abend zuvor denkt auch Skup, dass noch mehr Menschen in Polen Zuflucht suchen könnten, wenn Russland den Krieg eskalieren sollte. Angesichts dieser Möglichkeit und mithilfe Rays Spende möchten Skup und seine rotarischen Freunde das Zentrum langfristig ausbauen, um Kinderbetreuung, Berufs- und Sprachkurse, psychologische Hilfe und eine medizinische Grundversorgung auch Geflüchteten aus anderen Ländern, einschließlich Russland und Weißrussland, anbieten zu können. „Mit 17 Mitgliedern ist unser Club relativ klein“, meint Skup. „Unser klares Engagement für die humanitäre Hilfe hat allerdings das Interesse an der Mitgliedschaft erhöht und wir denken, dass wir bald mindestens drei neue Mitglieder haben werden.“  

Und dann stellt sich Skup mit ausgebreiteten Armen und der Fahne seines Clubs in der Hand vor dem Chopin-Denkmal auf. Ich mache ein Foto von ihm und schaue mir dann die Skulptur genauer an. Sie wurde zum ersten Mal 1926 hier aufgestellt, 1940 von der deutschen Armee zerstört und 1958 restauriert. Dabei sehe ich eine Inschrift, die auf dem Sockel des Denkmals eingraviert ist: „Flammen werden unsere gemalte Geschichte verzehren, schwertschwingende Diebe werden unsere Schätze plündern, das Lied wird gerettet.“ 

Dieses Zitat stammt aus einem Erzählgedicht von Adam Mickiewicz, der von einigen als der größte Dichter Polens angesehen wird. Es hätte aber genauso gut über die Ukraine geschrieben worden sein.

Donnerstag, 17:15 Uhr, Zamość

Von Warschau nach Zamość fährt man vier Stunden mit dem Bus durch ländliche Gegenden. Als Zirkle und ich in der Abenddämmerung aus dem Bus steigen, sind wir laut Google Maps weniger als 65 km von der Grenze zur Ukraine entfernt. Die Dunkelheit bricht über uns herein und der stechende Geruch von Holzfeuern liegt in der Oktoberluft. Aufgrund der explodierenden Energiekosten heizen jetzt viele Familien hier wie auch anderswo in Europa mit Kaminen und Holzöfen. 

Zamość liegt an einer mittelalterlichen Handelsstraße, die einst West- und Nordeuropa mit dem Schwarzen Meer verband. Trotz des mutigen Widerstands ihrer Bewohner, den viele mit ihrem Leben bezahlten, wurde die von dem italienischen Architekten Bernardo Morando entworfene Stadt im Zweiten Weltkrieg von den Nazis überrannt. Nach der Einnahme der Stadt trieben die Nazis systematisch die jüdische Bevölkerung zur Deportation in die Todeslager zusammen. Ich vermute, dass diese tragische Geschichte ein Grund für das erstaunliche Mitgefühl der Einwohner während dieser jüngsten Krise ist. Laut einer Nachrichtenmeldung im März haben etwa 4.000 Flüchtlinge in der Stadt Zuflucht gefunden. 

Das Hotel Morando liegt am hübschen und liebevoll restaurierten Großen Markt, der einer italienischen Piazza ähnelt. Der perfekt quadratische Platz ist gesäumt von bunten Renaissance-Gebäuden, deren Dächer an die Architektur des 16. Jahrhunderts erinnern. Zirkel und ich schleppen unser Gepäck in die palastartige Lobby und treffen auf Alex Ray, so wie es Skup vorhergesagt hatte. Zusammen mit seinen Freunden sammelte Ray 1,3 Millionen Dollar für Hilfsprojekte in der Ukraine – und legte dann eine weitere Million Dollar aus seinem eigenen Vermögen dazu, um diese Summe nahezu zu verdoppeln. 

Steve Rand, Ray und der Rotarier Ryszard Łuczyn aus Zamość nehmen vor ihrer Weiterreise in die Ukraine Kartons mit Schlafsäcken in einem Lagerhaus in Chelm (Polen) entgegen.  

Common Man for Ukraine/Steve Rand

Ray, dem die beliebte Restaurantkette „Common Man“ in New Hampshire gehört, ist ein sanftmütiger und bescheidener Mann. Zusammen mit dem Rotarier Steve Rand, mit dem er seit 40 Jahren befreundet ist, und ihren Partnerinnen Lisa Mure und Susan Mathison ist er auf dem Weg in die Ukraine. Sie waren gerade von ihrer zweiten Reise in die Ukraine zurückgekehrt, auf der sie herausfinden wollten, was die Menschen vor Beginn eines dunklen und kalten Winters, der durch Stromausfälle noch schlimmer geworden ist, am dringendsten benötigen.  

„Als wir im März letzten Jahres sahen, wie russische Panzer in die Ukraine rollten, fühlte sich das ungeheuer bedrückend an", sagt der 78-jährige Eisenwarenhändler Rand. „Das war wie ein Militäreinsatz des Zweiten Weltkriegs in Echtzeit. Die gesamte Kriegsmaschinerie wird gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, die sich selbst kaum zur Wehr setzen kann.“   

Ray nickt zustimmend. „Diese Aggression ist einseitig, unfair und ungerecht“, sagt er. „Wir sind voller Mitgefühl für die unschuldigen Zivilisten, die diese Tragödie durchmachen müssen. Es gibt Parallelen zu den Hurrikan-Opfern in den USA, denen wir helfen konnten. Nur dass niemand wusste, wie unsere Hilfe die Ukraine erreichen kann.“  

Als Mitglieder im Rotary Club Plymouth, New Hampshire, fanden Ray und Rand die Lösung dafür in ihrer Organisation. „Wir beschlossen, unsere Hilfe über das rotarische Netzwerk in Polen und der Ukraine zu kanalisieren“, erklärt Ray. „So haben unsere Spender die Gewissheit, dass ihr Geld direkt bei den Menschen in der Ukraine ankommt.“   

Ray und seine großherzigen Freunde fassten den Entschluss, in ihrem Bundesstaat Spenden zu sammeln. Sie fanden Unterstützung bei Lokalpolitikern, einem Radiosender, einem Baseballteam der Minor League und bei gemeinnützigen Organisationen wie Granite United Way, welche die Spendengelder treuhänderisch verwalteten. Auch die 850 Beschäftigten in seinen Restaurants beteiligten sich an der Aktion und verteilten Karten und Broschüren an die Gäste. „Wir sind stolz darauf, dass der Bundesstaat New Hampshire, in dem 1,38 Millionen Menschen leben, etwa einen Dollar pro Kopf der Bevölkerung gespendet hat“, sagt Rays Partnerin Lisa Mure.

Das Rathaus in der Altstadt von Zamość in der Ukraine.

Wen Huang

Alex Ray lobt seine neuen rotarischen Freunde in Polen für ihre grenzenlose Großzügigkeit: „Unsere Organisation – Rotary – gibt uns die Kraft zu helfen."

Er fügt hinzu, dass die Hilfsbemühungen über New Hampshire hinaus ausgebaut werden. Mit seinen Freunden ging er im letzten Sommer auf Erkundungstour in Polen und der Ukraine. Dabei identifizierten sie sechs Projekte für ihre Unterstützung, darunter das von Skup und seinem Club eingerichtete Flüchtlingszentrum und ein vom Rotary Club Krakau gekauftes Blutspende-Mobil zur Versorgung von Krankenhäusern in der Ukraine. Sie finanzierten den Kauf von 700 Tonnen Lebensmitteln, die von den Rotary-Mitglieder in Zamość verteilt wurden. „Jetzt kommen Schlafsäcke und Generatoren hinzu“, sagt er. „Unseren Erfolg verdanken wir den örtlichen Rotary Clubs. Sie kennen die Situation in der Ukraine und setzen unsere Mittel verantwortlich ein und bringen die Hilfe dorthin, wo sie gebraucht wird.“ 

Mir ist angesichts meiner bevorstehenden Reise in die Ukraine etwas mulmig zumute und ich frage die anderen, ob sie Angst um ihre Sicherheit hatten. „Im Mai habe ich das erste Mal meinen Fuß in ein Kriegsgebiet gesetzt“, antwortet Mathison, die ich scherzhaft als PR-Managerin der Gruppe bezeichne, weil sie es kaum erwarten kann, ihre Geschichte zu erzählen. „Ich bin eine ganz normale Mutter im mittleren Alter aus der Mittelschicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dort stehen würde. Vor unserer Abreise nach Lemberg wurden wir vor möglichen Bombenabwürfen gewarnt und gefragt, ob wir immer noch dorthin fahren wollten. Ich dachte an die Millionen ukrainischen Menschen, die jeden Tag durch Bomben geweckt werden und den Mut finden, ihre Kinder zu ernähren, zu kleiden und in Sicherheit zu bringen. Wenn sie das schaffen, dann kann ich das auch einige Tage durchhalten und diese Erfahrung nutzen, um ihnen langfristig zu helfen.“ 

Die vier beschreiben, was sie in der Ukraine gesehen haben: eine Kongresshalle und eine Kaserne aus der Sowjetzeit, die als provisorische Flüchtlingsunterkünfte dienen, die Koordinierung von Lebensmittellieferungen aus einem behelfsmäßigen Warenlager und ein verwahrlostes Waisenhaus, bei dessen Umbau sie mithalfen. Ray lobt seine neuen rotarischen Freunde in Polen für ihre grenzenlose Großzügigkeit: „Unsere Organisation – Rotary – gibt uns die Kraft zu helfen.“ 

Das humanitäre Quartett (von links) Susan Mathison, Rand, Ray und Lisa Mure beim Kartenstudium im Hotel Morando in Zamość. 

Ed Zirkle

Auf ihrer Reise im Oktober haben sich ihre Befürchtungen eines kalten Winters für die Kinder in der Ukraine verstärkt. Mitte Dezember kehrte Ray mit seinen Freunden in die Ukraine zurück. Als Väterchen Frost verkleidet brachte er 18 Tonnen Lebensmittel, 1.000 Schlafsäcke, 24 Generatoren und 1.300 Weihnachtspakete in Waisenhäuser in Lemberg und Riwne.  

Wir hätten uns sicher noch eine weitere Stunde unterhalten, wenn die vier nicht zum Abendessen gerufen worden wären. Ich gehe gerade zurück in mein Zimmer, als das Telefon klingelt. Am anderen Ende ist Piotr Pajdowski, Präsident des Rotary Clubs Warszawa-Belweder. Er sagt mir, ich solle mich bereithalten: Am Morgen werde ich von zwei Rotariern abgeholt, die mich und den Fotografen über die Grenze bringen werden. 

Um 9 Uhr morgens schlendern Vasyl Polonskyy und Hennadii Kroichyk in die Hotellobby, wo das Quartett aus New Hampshire und ein Rotarier aus Zamość gerade auschecken. Bei der bloßen Erwähnung von Rotary fallen alle sprachlichen oder kulturellen Barrieren zwischen eigentlich Fremden und wir begrüßen einander herzlich wie alte Freunde. Wir reden so angeregt miteinander, dass wir die Koffer absetzen müssen. 

Dann geht es los.

Polonskyy lässt sich Zeit und fährt zwei Mal durch die malerischen Ecken von Zamoś. Das soll uns Glück bringen, das wir für unseren nächsten Halt auch dringend brauchen: Die Ukraine.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Ausgabe vom Februar 2023 des Rotary Magazine. In der März-Ausgabe schließt Wen Huang seinen Bericht mit einem Besuch im belagerten Lemberg ab, der kulturellen Hauptstadt der Ukraine. 

Spenden an den Disaster Response Fund der Rotary Foundation helfen Menschen in Krisengebieten auf der ganzen Welt.